|
Vom
Tod am Bildschirm und
dem Respekt gegenüber dem Menschen
Architektur
und Identifikation
«Die Abteilung
Krieg soll Sentenzen veröffentlichen, die geeignet sind, der Menschheit
zu zeigen, dass auch ohne Krieg unsere Kulturlosigkeit bestehen
bleiben kann. Anregungen sind herzlich willkommen. Kluge Worte sollen
veröffentlicht werden.»1
Die barbarischen Terroranschlägen in New
York vom 11. September 2001 haben uns alle betroffen gemacht und
werden in reger Erinnerung bleiben. Dieser Terrorakt hätte jeden
treffen können. Auf einen Schlag ist klargeworden, dass sich die
Welt im Umbruch befindet. Die Folgen prägen seither einen grossen
Teil unseres tagespolitischen Geschehens. Mittlerweile herrschte
ein weiterer Krieg in Afghanistan, wo die vermeintlichen Urheber
der Terroranschläge und deren unterstützende Kräfte mit militärischen
Mitteln beseitigt wurden. Wie steht die Architektur zu diesen weltpolitischen
Herausforderungen oder inwiefern kann Architektur politisch sein?
Karlheinz Stockhausens deplazierte Aussage,
dass der Terroranschlag von New York das "grösste Kunstwerk" im
ganzen Kosmos sei, das es je gegeben hat 2 , ändert weder etwas
am Leid der Menschen noch ist es ein echter Beitrag zu den aufgeworfenen
Fragen.
Coop Himmelb(l)au äusserten provokativ 1968,
dass sie in der Architektur nicht ausschliessen wollen, was unruhig
macht: Eine "Architektur die blutet, die erschöpft, die dreht und
meinetwegen bricht [...] Architektur muss schluchtig, feurig, glatt,
hart, eckig, brutal, rund, zärtlich, farbig, obszön, geil, träumend,
vernähend, verfernend, nass, trocken und herzschlagend sein. Lebend
oder tot." Und weiter "Architektur muss brennen."3 Auch wenn die
Sätze nie so gemeint waren, bekommen die unwillkürlichen Assoziation
nach den Terroranschlägen in New York einen ganz unangenehmen Beigeschmack.
Doch geht es mir nicht um eine Polemik.

Hat Daniel Libeskind recht, wenn er behauptet,
dass ein Gebäude ein direkter Ausdruck der kulturellen Werte, der
ökonomischen Kraft und der Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft
ist und gerade nach dem Anschlag nicht neutral, sondern mehr denn
je auch als Symbol zu verstehen sei? 4 Ist denn heute Architektur
als Symbol der Gesellschaft zu verstehen? Ein architektonischer
Raum besitzt darüberhinaus auch andere qualitative, inhaltliche
und kulturelle Beziehungsebenen.
Kraft der Gewalt; Kraft der Ideen
Die Anschläge vermochten die Weltlage zu destabilisieren. Um eine
allgemeine Sicherheit wieder herzustellen, lässt sich die heftige
Reaktion der USA nachvollziehen. Die kriegerische Rhetorik des amerikanischen
Präsidenten George W. Bush stimmte einen dennoch bedenklich. Seine
Aussprüche wie "Wir sind im Krieg", "Most wanted Terrorists", "War
against Terror", "Jeder, der Uniform trägt, soll sich bereit machen"
und die Verantwortlichen der Terroranschläge würden "ausgeräuchert"
fielen bereits direkt nach dem Attentat.5 Es kann nicht darum gehen,
die grauenhaften Taten der Terroristen an Unschuldigen in irgendeiner
Art zu verteidigen, jedoch darf ein Rechtsstaat keinesfalls mit
einer kollektiven Strafaktion antworten. Trotzdem drohte der Westen
seit Beginn der Krise mit einem Krieg. So sprach die Sonntagszeitung
in ihrem Kulturteil bereits am 16. September im Übertitel von einem
"Fanal" und auf den folgenden Seiten von einem "Neuen Krieg".
Im Andenken an die Opfer der Terroranschläge
wurden in der ganzen Welt Kerzen ans Fenster gestellt. Hat eigentlich
auch jemand eine Kerze ans Fenster gestellt, als der Krieg in Afghanistan
anfing? Auch wenn dieser Krieg seine begründbaren Ursachen hat,
sind wieder unzählige unschuldige Menschen gestorben und ein darbendes
Land wurde ein weiteres Mal verwüstet.
Als ob man ernsthaft gegen Terror Krieg
führen könne. Zivilisten werden zu Terroristen und tauchen wieder
als Zivilisten unter. Terror unterscheidet sich von Krieg gerade
indem er verdeckt Angst und Schrecken verbreitet. Alleinig das die
Terroristen unterstützende System der Taliban und die Trainingscamps
der Dachorganisation al-Qaida in Afghanistan sind einigermassen
klar definierbar. Doch besitzt die al-Qaida in bis zu sechzig Ländern
Ableger.6 Bei dieser Komplexität der inneren Organisation des Gegners
stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit eines militärischen Schlages.
Es darf nicht passieren, dass der Westen unbeabsichtigt weiteren
Hass schürt. Ideen und vor allem hasserfüllte können durch keinen
Krieg zerstört werden. Somit dürfen Aktionen nur mit einem fundierten
Verständnis der inneren Zusammenhänge und einem grundsätzlichen
Respekt gegenüber den dortigen Menschen erfolgen. Hierdurch kann
eine Eskalation verhindert werden. Nur eine vertiefte, gegenseitige
Auseinandersetzung mit den Werten und Gegebenheiten fremder Kulturen
bildet die Voraussetzung für eine dauerhafte Lösung.
Vor lauter Tagesgeschehnissen verlieren
die Zuschauer und die Medien zunehmend den Blick für das Essenzielle.
Die Berichterstattung ist eine Jagd nach den neusten und aussagekräftigsten
Bildern und versucht zunehmend mit Gemeinplätzen wie "die Achse
des Bösen"7 auf komplexe Fragestellungen einfache Antworten zu geben.
Wir sehen keine weinenden Menschen aus Afghanistan wie aus New York,
sondern nur gezielte Bombeneinschläge in Pisten von Flughäfen, heldenhafte
Militärpiloten, die in ihre Jets steigen, GIs die Wache stehen und
glückliche, befreite Menschen; abstrakte Bilder, die das eigentliche
Geschehen (den Krieg!) und das Leid verdecken. Die inneren Zusammenhänge
spielen in der Berichterstattung eine untergeordnete Rolle. Der
emotionelle Wert der Bilder ist entscheidend. So hat der Zuschauer
an allen Aktionen teil und ist trotzdem wenig informiert. Doch ist
mittlerweile diese oberflächliche Berichterstattung eine gängige
Form der Informationsvermittlung und dies nicht nur bei Kriegen.
Der Nachbar als potentieller Massenmörder
Als direkte Folge der allgemeinen Verunsicherung nach den Anschlägen
in den USA wird auch in der Schweiz nach Möglichkeiten gesucht,
die Sicherheit der Menschen zu erhöhen, da diese ihren Mitmenschen
nicht mehr vertrauen. Diese könnten sich von einem Moment auf den
andern in Terroristen oder Massenmörder verwandeln. In den urbanen
Zentren werden Überwachungskameras alltägliche Begleiter unseres
"entwickelten" Lebens. Die Überwachung und die Personenkontrolle,
wie wir sie in einer im Grunde harmlosen Form in der Reality TV-Show
"Big Brother" kennengelernt haben, wird plötzlich zu einem allgemeinen
Albtraum. Am stärksten ändert sich die Situation für Fremde. Aus
einem steigenden Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung entsteht die
Gefahr, dass eine Integration durch neue bürokratische Hürden erschwert
wird. Die kulturellen Schranken würden so unnötigerweise vergrössert.
Diese Abschottungstendenz gilt es zu verhindern. Gerade sie verhindert
ein gegenseitiges, kulturelles Verständnis und sich dies zu einem
späteren Zeitpunkt als Bumerang erweisen könnte.
Architektur und Apokalypse
Es kann nicht darum gehen, die Apokalypse als mögliche Zukunftsaussicht
an die Wand zu malen, wie dies Paul Virilio in einem warnenden Interview
getan hat. Doch seinem Gedankengang ist zuzustimmen, wenn er behauptet:
"Die Netz-Ökonomie, der Einheitsmarkt, das Monopol der multinationalen
Konzerne, die ausserordentliche Arroganz der neuen Technologien
insbesondere der Gentechnologie, d.h. im Bereich der Ersetzbarkeit
des Menschen, der Eugenik, führen dazu, dass zwar nicht wieder der
Klassenkampf im traditionellen Verständnis des Wortes entbrennt,
wohl aber der Kampf [...] der Kasten." Weiter meint er, dass die
multinationalen Konzerne etwas wie "den globalen Feudalismus" verkörpern.
"Wir haben es also mit einer Art Kastenkrieg zwischen den Sklaven
und den Andern zu tun." Des weiteren sieht er im Einsatz einer "terroristischen
Luftwaffe" eine bewusste Strategie gegen die Städte.8
Die Globalisierung wird weiter voranschreiten.
Die gegenseitigen Abhängigkeiten der einzelnen Teile der Welt werden
sich in Zukunft weiter verstärken. Dazu besitzen Europa und die
USA bereits heute kulturell stark gemischte Gesellschaften. Auch
wird der Westen gerade auf unterentwickelte Länder weiterhin eine
starke Anziehungskraft ausüben, was eine verstärkte Durchmischung
der unterschiedlichsten Kulturen mit sich bringen wird. Doch resultiert
nicht gerade daraus, dass für Architektur keine allgemeingültigen,
für jedermann verbindliche regionale Regeln mehr existieren?
Architektur-Kritik: Mensch, Kultur, Architektur
Für ein erfolgreiches Architekturbüro ist es überlebenswichtig,
dass ihre Bauten regelmässig publiziert werden. Selbst junge Architekten
streben danach, bereits ihren ersten Bau in einer Architekturzeitschrift
zu sehen. Hierfür werden Gebäude auf bestimmte formale Reize, Zeichen
und Ansichten hin entworfen, um auch sicher Erfolg zu haben. In
den Kritiken werden diese Gebäude oft gar nicht bewertet, deren
Stärken und Schwächen herausgefiltert und über das Bauen nachgedacht,
wie dies selbst in jeder Theater- oder Filmkritik geschieht. Geschrieben
wird über das, was für gut eingestuft wird, die Auflage steigert
oder einfach publiziert werden muss, um dem Leser einen bestimmten
Überblick zu ermöglichen. In der Auslassung, im Nicht-Publizieren
eines Werkes, liegt die eigentliche Kritik.
Dennoch kann sich Architektur nicht einfach
auf ihr eigenes Fachgebiet zurückziehen und ideologische, formale
oder quantitative Diskussionen führen. Sie muss ihre Arbeit mit
den aktuellen, wie den oben beschriebenen Vorgängen in der Gesellschaft
in Verbindung bringen und über ihren Sinn nachdenken. So müssen
die verdeckten Beziehungen des vordergründigen Bildes thematisiert
werden. Die wichtigste Aufgabe besteht aber in der kulturellen Auslotung
der Beziehung Menschen - Architektur. Diese Auseinandersetzungen
müssen Teil des allgemeinen kulturellen und sozialen Diskurses sein.
Diese kritische Beurteilung darf sich nicht nur in Fachzeitschriften
abspielen, sondern muss auch in einer breiten Öffentlichkeit geführt
werden. Ansonsten ist eine Ghettoisierung der Architektur vorprogrammiert.
Die Qualität unserer Welt besteht in der
Unterschiedlichkeit der verschiedenen Orte und Kulturen. Diese darf
nicht aus ökonomischen Zwängen, ökologischen Erfordernissen oder
Unverständnis einer allgemeinen Vereinheitlichung geopfert werden.
Sonst verlieren die Orte ihre Identität, und die Menschen erkennen
sich in ihnen nicht mehr wieder. Architektur ist dann Teil des von
Virilio erwähnten globalen Feudalismus. Eine einzige Lösung für
ein Problem kann unmöglich überall angemessen sein. Eine weltoffene,
regionalistische Architektur, welche die lokalen Bezüge zum Ort
und zum spezifischen, kulturellen Umfeld besitzt, vermag den Menschen
in seiner ihm eigenen Prägung wahrzunehmen. Architektur kann so
einen Beitrag dazu liefern, dass sich die Menschen in ihrem persönlichen
Umfeld auch ernstgenommen fühlen.
Unsere heutige Umgebung entstand aus einer
Kombination und Überlagerung der verschiedensten Kulturen. Bei der
starken Durchmischung unserer Städte und den stetigen Veränderungen
und Weiterentwicklungen unserer Gesellschaft bedeutet dies keineswegs
die Festschreibung eines bestimmten, formal architektonischen Kodexes.
Architektur wird sich wie das Leben immer weiterentwickeln. Diese
Dynamik der Veränderung soll und muss sich auch in der Architektur
widerspiegeln. Da unsere Gesellschaft keine eindeutige kulturelle
Prägung mehr besitzt, heisst dies noch lange nicht, dass alles möglich
sein muss. Auch das Neue muss in einem weltoffenen Regionalismus
die kulturellen Eigenarten respektieren aber auch weiterentwickeln
helfen. Nur so ist es möglich, auf andere Kulturen einzugehen und
diese gesellschaftlich zu integrieren und nicht zu annektieren.
Eine wache Aufmerksamkeit gegenüber diesen Veränderungen und ein
Bewusstsein gegenüber dem architektonischen Kern der kulturellen
Identität ist ein wichtiges Werkzeug für einen respektvollen Umgang
gegenüber dem Mitmenschen.
Sicherlich liegt die grösste Schwierigkeit
in der heutigen Mobilität und der wechselnden Aufgaben, die ein
Bau in seinem Leben zu erfüllen hat. Gerade diese Herausforderungen
werfen die Architektur auf ihre ureigenen Gesetzmäsigkeiten (Konstruktion,
Struktur, Typologie, Raum, Material und Städtebau) zurück.
Auf welcher Ebene diese Auseinandersetzung
am Bauwerk selbst stattfindet, hängt weniger von einer vorgefassten
Theorie, als von der gestellten Aufgabe und dem dazu gewählten Lösungsansatz
ab. Dennoch wird dieser wohl eher eine Kombination sein, als eine
"einfache" Antwort. Doch entscheidend ist schlussendlich ein Verständnis
gegenüber den Menschen, für welche das Gebäude bestimmt ist. Banale,
sich nur durch ihr Zeichenhaftes unterscheidende, wie sie beispielsweise
in Tourismusgebieten oder im neuen Stadtteil Pudong in Schanghai
entstehen, mögen ihre wirtschaftlichen Zwecke erfüllen. Sie besitzen
aber wenig Berührungspunkte mit sinnlichen und kulturellen Erfordernissen
oder den Chancen eines Ortes, was früher oder später zu Problemen
führen wird. Die unreflektierte, formale Reproduktion von Bildern
führt nicht zur angestrebten Identifikation, sondern produziert
sprachlose, auswechselbare Raumhülsen, die auch bald wieder durch
einen neuen Trend ersetzt werden müssen.
Doch kann es sich die Architektur keinesfalls
leisten, rückwärtsblickend an die Lösung ihrer Aufgaben zu gehen.
Eine Konservierung des Lebens ist weder erstrebenswert, noch möglich.
Doch bleibt die Architektur als eigenständige Disziplin, der Ort
und die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse als Eckpunkte bestehen.
Gion A. Caminada betont, dass Architektur gesellschaftskritisch
sein muss, um Relevanz zu besitzen, die den Menschen wichtig ist.9
Eine sich mit den kulturellen Werten auseinandersetzende Architektur,
wie sie in Graubünden von Bearth & Deplazes, Conradin Clavuot, Gion
A. Caminada, Jüngling & Hagmann und Peter Zumthor gepflegt wird,
oder eine Weiterentwicklung des Ansatzes von Aldo Rossi um die Architektur
der Stadt und deren Typoloie stellen gangbare, mögliche Wege dar,
das Problem auf architektonischer Ebene zu meistern.
Auch Architektur kann ihren Beitrag zur
allgemeinen Völkerverständigung leisten. Das zentrale Mittel hierfür
liegt im ernstnehmen der menschlichen Bedürfnisse, des Kulturellen
Umfeldes und der Anerkennung der spezifischen Regeln von Architektur
als autonome Kunstform. Ein fundamentales Nachdenken über die menschliche
Existenz bedingt einen tiefen Respekt vor dem Mitmenschen, seiner
kulturellen Identität und deren Äusserungsformen. Nur dies ermöglicht
uns den Erhalt und die Weiterentwicklung einer vielfältigen, multipolaren
und offenen Welt.
Daniel
Walser
1
Kurt Schwitters, Das literarische Werk. Band 5: Manifeste und kritische
Prosa, herausgegeben von Friedhelm Lach, Köln DuMont 1981, S.142.
2 Neue Zürcher Zeitung, "Ein Satz und seine Folgen", 20. September
2001, S.68.
3 Zitiert nach: Covering
+ Exposing, Die Architektur von Coop Himmelb(l)au, Frank Werner,
Birkhäuser 2000, S.9.
4Vortrag von Daniel Libeskind an der HTW Chur vom 21. September
2001.
5 Neue Zürcher Zeitung, 13. September 2001, S.1; SonntagsZeitung
vom 16. September 2001, S. 1-2; CNN Berichterstattungen in der 1.
Woche.
6 Bassam Tibi, "Ein mit Hass erfülltes Bild des Westens", in: Weltwoche,
Nr. 42, 18. Oktober 2001, S.5.
7 Neue Zürcher Zeitung, "Bushs langer Kampf gegen den Terrorismus.
Bericht zur Lage der Nation auf dem Capitol", 31. Januar 2002, S.1.
8 Paul Virilio, Interview: "Vom Terror zur Apokalypse? Der erste
Krieg der Globalisierung und der Krach der Netzstrategie", in: Lettre
international, Heft 54 III VJ./2001, S.5-7.
9 Telefongespräch vom 6. März 2002.
|